Rotenburg an der Wümme





II
Eintreffen englischer Truppen - Kriegsgefangenen-Lazarett in Rotenburg an der Wümme - von englischen Soldaten "gefilzt" - Kapitulation - Rasierbecher für Kotauffang - ein Furunkelheld - Tod Kalli Bähres


Das Kriegsgeschehen in Deutschland war inzwischen in die letzte Phase eingetreten. Wir erfuhren zwar sehr wenig, denn Radio-Nachrichten waren selten zu empfangen und wohl auch ungenau und nicht wahrheitsgetreu. So erfuhren wir Ende April aus dem Rundfunk, dass der "Führer" bei den Kämpfen in Berlin den "Heldentod" gefunden habe und Großadmiral Dönitz sein Nachfolger geworden sei. Die Rote Armee hatte inzwischen die Elbe erreicht. Alle diese Nachrichten lösten bei uns kaum Emotionen aus. Nur die Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses furchtbaren Wahnsinns wurde gestärkt.

Schon ein oder zwei Tage nach dieser Meldung erschien bei uns Offizieren unser Chefarzt. Er war sehr aufgeregt und teilte uns mit, dass das Eintreffen englischer Truppen wohl unmittelbar bevorstünde. Er wollte mit uns besprechen, was nun zu tun sei. Wir machten ihm klar, dass er als Lazarettkommandant nun gefordert sei. Er müsse das Lazarett übergeben und dem Engländer versichern, dass sich hier keine Kampftruppen befänden. Er hatte die Hoffnung und den Wunsch, dass einer der verwundeten Offiziere ihn bei diesem Gang begleiten würde. Aber es kamen nur zwei infrage, da alle anderen nicht gehfähig und auch bettlägerig waren. Diese zwei lehnten die Bitte aber ab mit der Begründung, das sei die Aufgabe der Lazarettleitung. Auf unseren Vorschlag befahl er dann zu seiner Begleitung einen Englisch sprechenden Oberarzt und zwei Sanitäter, von denen einer in Ermangelung einer Rotkreuzfahne ein zu einer weißen Fahne umfunktioniertes Betttuch zum Zeichen der Übergabe zu schwenken hatte.

Am späten Nachmittag erfuhren wir dann, dass die Übergabe wie besprochen stattgefunden hatte. Die kleine Gruppe war der sich nähernden englischen Panzerspitze fahnenschwenkend entgegen gegangen und hatte ihre gut einstudierte Rolle fehlerfrei und erfolgreich absolviert. Wir amüsierten uns und machten unsere Witze über das operettenhafte Schauspiel unter der Leitung unseres sonst so "heldenhaften" Chefarztes. Den Rest des Tages und auch den ganzen nächsten Vormittag warteten wir ab, was sich nun ereignen würde, aber nichts geschah. Erst am Nachmittag erhielten wir die Weisung, uns bereitzuhalten für die Übernahme als Kriegsgefangene. Kurze Zeit darauf klopfte man dann auch an unsere Tür. Sie wurde geöffnet. Ein englischer Offizier, begleitet von zwei Soldaten mit Maschinenpistolen, und ein dritter Soldat, der sich dann als Dolmetscher herausstellte, und dahinter unser Chefarzt betraten unseren Raum. Der Offizier machte eine militärische Ehrenbezeigung und gab eine längere mündliche Erklärung ab, die vom Dolmetscher übersetzt wurde. Ich erinnere mich noch genau an den ersten Satz: Sie sind von nun ab Kriegsgefangene seiner Majestät des britischen Königs." Dann folgten weitere Hinweise auf die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konvention, die man beide einzuhalten gedenke. Danach wurden unsere Pflichten aufgezählt: Befolgung und Ausführung aller Befehle und Anweisungen, Abgabe von Waffen, falls Privateigentum wie Offizierspistolen, mit Namensanhänger versehen, und noch vieles mehr. Dann erfolgte wieder eine militärische Ehrenbezeigung durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung (so hieß das in der deutschen Militärsprache), und die Gruppe verließ unser Zimmer. Jetzt war ich etwas, was ich noch nie im Leben war und wohl hoffentlich auch nie wieder sein werde, ein Gefangener. Ich hatte meine Arme allerdings nicht heben müssen, denn meine "Gefangennahme" erlebte ich im Bett liegend.

Wenige Tage später wurden wir wieder verlegt, jetzt allerdings von englischen Soldaten und Sanitätern, die uns mit Sanitätswagen der britischen Armee nach Rotenburg an der Wümme transportierten, das etwa 20km von Kirchwalsede entfernt liegt. Hier in Rotenburg hatte sich seit vielen Jahrzehnten schon eine von Diakonissinnen betreute Anstalt für geistig Behinderte befunden, die aus vielen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, dem Unterkunftshaus der Diakonissinnen, einer großen Gärtnerei und vielen anderen Einrichtungen bestand.


Rotenburg: Diakonissenmutterhaus

Dieser gesamte Komplex lag in einem herrlichen großen Park, der von einer hohen Mauer umgeben war, die sich um das ganze Anwesen zog. Geistig Behinderte befanden sich hier nicht mehr; sie waren wahrscheinlich Opfer der in der Nazizeit durchgeführten Euthanasie geworden. Die Anlage wurde wohl schon seit einigen Kriegsjahren als Lazarett genutzt und die Diakonissinnen für den Pflegedienst mit übernommen; sie verrichteten ihre Arbeit gemeinsam mit Sanitätern und Rotkreuzschwestern. Nun war alles von den Engländern übernommen worden. Als Kriegsgefangenen-Lazarett eignete sich die Anlage vorzüglich, nicht zuletzt auch wegen der notwendigen Bewachung innerhalb der umschließenden hohen Mauer.

Während der Fahrt im englischen Sanitätswagen in dieses neue Domizil hatte ich noch ein sehr unangenehmes Erlebnis. Ich lag mit drei anderen Verwundeten auf einer der Liegen in dem Wagen. Nachdem wir eine kurze Zeit gefahren waren, hielten wir plötzlich an. Durch die geöffnete Rücktür stiegen zwei britische Soldaten ein und stellten sich in den Mittelgang. Ich dachte, es waren Sanitäter, die zu unserer Begleitung eingestiegen waren; aber schnell wurde ich eines besseren belehrt. Plötzlich kniete der eine Soldat neben meiner Liege und hielt meinen linken Arm fest, während der andere Soldat meine Armbanduhr löste und verschwinden liess. Dann "filzten" sie auf die gleiche Weise noch die drei anderen Schwerverwundeten. Wir waren natürlich nicht in der Lage, uns zur Wehr zu setzen. Der Sanitätswagen hielt wieder an, die beiden öffneten die Tür und sprangen nach draußen. Die Tür wurde von außen zugeschlagen, und unser Wagen fuhr wieder an. Uns war klar, dass das ganze ein wohl überlegtes mit dem englischen Fahrer abgekartertes Spiel war. Der Besitz einer Armbanduhr war, wie wir hörten, für einen einfachen Engländer ein erheblicher Besitz.

Dieses unangenehme Erlebnis wurde dann aber recht bald verdrängt durch die Turbulenzen beim Beziehen unserer neuen Unterkunft. Es stellte sich bei uns sogar ein Stimmungsaufschwung ein, als wir erlebten, dass wir sieben Offiziere wieder zusammen blieben und gemeinsam in einem Raum untergebracht wurden, der nicht nur erheblich größer, sondern auch schöner war als der in Kirchwalsede. Ich glaube, das Zimmer hatte drei oder vier große Fenster an der einen Seite, die uns einen großzügigen Blick in den wunderschönen Park gewährten.

Mein Zustand und mein Befinden hatten sich zum Glück weiter positiv entwickelt. Ich musste zwar immer noch recht unbeweglich auf dem Rücken liegen, konnte aber inzwischen meinen Kopf viel besser drehen. Beweglichkeit und Empfindungsgefühl beider Hände und der Finger waren fast vollständig zurückgekehrt. Auch die Nähte meiner Bauchwunde erfüllten ihre Aufgabe und sorgten dafür, dass die breite Wunde sich langsam verengte. Schwierig gestaltete sich der häufige Wechsel der Verbände, der wegen der laufenden Wundversorgung notwendig war. Schon seit meiner Einlieferung in das Lazarett in Verden war das Verbandmaterial Mangelware geworden. Sanitäter und Ärzte verwendeten im wesentlichen Zellstofflagen und auch Zellstoffbinden statt Mullbinden und Mullabdeckungen. So war es auch jetzt hier in Rotenburg. Diese behelfsmäßigen Verbände waren natürlich schnell durchnässt und konnten nur in stückweisen Fetzen beim Wechsel abgenommen werden. Ich litt sehr unter der starken Geruchsbelästigung dieser durchweichten Papierverbände.

Einige Tage nach unserer Verlegung erlebten wir eine interessante Arztvisite. Die Verbände meiner Bauchwunde wurden vorher von Schwestern abgenommen. Dann erschien in unserem Zimmer eine ungewöhnlich große Gruppe von Ärzten und anderem Personal. Wie wir schnell feststellten, handelte es sich um die Visite eines englischen Militärarztes mit Dolmetscher und einem Assistenten, begleitet von dem deutschen Chefarzt und anderen Ärzten, Schwestern und Sanitätern. Die Gruppe ging von Bett zu Bett. Der deutsche Oberarzt erläuterte dem englischen Arzt jeden einzelnen Fall. Diese Visite hatte für mich sehr angenehme Folgen. Als der Oberarzt meine Verwundung und die Schwierigkeiten erläuterte, erwähnte er auch, dass ich eigentlich Schonkost erhalten müsse, dieses aber bei der augenblicklichen Versorgungslage nicht möglich sei. Darauf ordnete der englische Arzt an, dass ich täglich aus der Verpflegungskammer der englischen Besatzungssoldaten Weißbrot erhalten solle. Sein Assistent mußte das sofort notieren. Diese Anweisung wurde auch tatsächlich die nächsten Wochen zuverlässig befolgt.

Ein anderes Ereignis fiel auch noch in diese Zeit. Wir erfuhren, allerdings mehr beiläufig, dass Deutschland kapituliert hatte und damit dieser Krieg nach etwa fünf Jahren und acht Monaten ein Ende gefunden hatte. Dieses eigentlich bedeutsame Ereignis wurde bei uns im Lazarett nur mit geringer Beachtung und wenig Emotionen zur Kenntnis genommen. Unsere augenblicklichen eigenen Probleme beschäftigten uns viel mehr, der Krieg galt bei uns schon lange für verloren und hatte für uns Verwundete im Lazarett schon seit Wochen und Monaten ein Ende gefunden.

Die folgenden Wochen im Mai 1945 verliefen für uns sehr ruhig und wurden nur von kleinen unbedeutenden Begebenheiten begleitet. So kam eines Tages eine englische Kommission, die von Bett zu Bett ging und die Arme heben liess auf der Suche nach eintätowierten Blutgruppen, ein untrügliches Zeichen auf Mitgliedschaft in der ehemaligen Waffen-SS, bei uns allerdings ohne Erfolg. Dann wieder kam eine Nachricht, dass Verwundete, die aus Elsass-Lothringen stammten, sich melden sollten. Ihre vorübergehende deutsche Staatsbürgerschaft - und damit auch die deutsche Wehrpflicht - galt als beendet. Man wollte sie bevorzugt entlassen und in ihre Heimat zurück transportieren, die inzwischen wieder französisch geworden war.

Mein Befinden besserte sich langsam, die Heilung der Wunde machte Fortschritte. Eine Spielleidenschaft hatte meine Zimmerkameraden befallen. Da uns Bücher und auch andere Lesestoffe überhaupt nicht zur Verfügung standen, diese waren von der englischen Verwaltung verboten worden, hatte man uns aus den Beständen der Anstalt mit Gesellschaftsspielen versorgt, hauptsächlich Schachspielen und Spielkarten. Dagegen bestanden seitens der englischen Kommandantur keine Bedenken, da diese nicht nazistisch beeinflusst sein konnten. Nun wurde den ganzen Tag gespielt, nur unterbrochen von den Mahlzeiten. Ab Ende Mai konnte auch ich an Skat und Schachspielen teilnehmen, da meine Mitspieler ihre Stühle an mein Bett rückten und ein weiterer leerer Stuhl uns als Spieltisch diente. Ich konnte mich glücklicherweise wieder drehen und wenden und auch leichte Oberkörperdrehungen ausführen.

Eine Sache behinderte mich doch sehr und drückte auch auf meine Stimmung. Das war der durch eine Fistel perforierte Dickdarm innerhalb meiner zwar langsam aber doch fortschreitend abheilenden Wunde. Diese Fistel, die nach dem Versuch des Zusammennähens des zerschossenen Darms entstanden war, heilte von selbst nicht wieder zu. An dieser Stelle blieb der Darm geöffnet, so dass unkontrolliebar und auch nicht steuerbar Kot austrat. Darum musste die Wunde ständig sorgfältig gereinigt werden. Einer der Oberärzte kam eines Tages auf eine gute Idee. Er ließ von einem handwerklich geschickten Sanitäter einen Rasierbecher für meinen besonderen Fall als Auffangbehälter herrichten. Gegenüberliegend an jeder Außenseite des Bechers wurde ein Henkel aus dickem gebogenen Draht gelötet. Durch diese Henkel wurde ein Stoffband gezogen, der Becher auf meiner Bauchwunde platziert, das Stoffband um meinen Rücken herumgelegt und an der Seite verschnürt. Zum Abdichten und Polstern des Becherrandes wurden aus Zellstoff Ringe ausgeschnitten und damit der Becher auf der Wunde unterlegt. Mir war mit diesem provisorischen Hilfsmittel ganz hervorrragend gedient. Als ich dann etwa Anfang Juni wieder aufstehen konnte und das Gehen wieder langsam gelernt hatte, bediente ich diese Vorrichtung selbst, indem ich den Becher von Zeit zu Zeit auf der Toilette abnahm, entleerte und ausspülte. Zellstoffringe zum Unterlegen hatte ich in großer Menge selbst ausgeschnitten und hatte immer einige bei mir.

Für mich war eine hoffnungsvolle glückliche Zeit angebrochen. Ich konnte, wenn auch langsam und vorsichtig, in dem wunderschönen Park spazieren gehen und hatte das Gefühl, ein neues Leben sei mir geschenkt worden. Wir hatten viel Sonnenschein in diesem Sommer; Bäume und Büsche standen in frischem Grün. Lange Strecken konnte ich noch nicht gehen, aber immer erreichte ich eine der zahlreichen Parkbänke, wo dann auch ein Platz für mich frei war und ich interessante Gespräche mit anderen verwundeten Kameraden führen konnte. Hin und wieder setzte sich auch eine der Diakonissinnen zu uns, die wohl dienstfrei hatte, und beteiligte sich an unseren Gesprächen. Diese Frauen, die meistens nicht mehr in jungen Jahren waren, beeindruckten mich sehr, hatten sie doch gerade in den verflossenen Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft besonders hier bei der Pflege geistesgestörter Menschen die schrecklichsten und unmenschlichsten Erlebnisse gehabt und sich in ihrer liebevollen und anstrengenden Fürsorge für Schwache und Behinderte nicht beirren lassen.

Der Oberstabsarzt, unser deutscher Lazarettkommandant, besuchte uns immer noch oft in unserem Offizierszimmer. Er hatte seine alte Funktion gewissermaßen unter englischem "Oberkommando" behalten und musste, wie er uns erzählte, dem englischen Kommandanten ab und zu Bericht erstatten. Als er eines Tages wieder einmal bei uns zu Besuch war, stellten wir fest, dass er mit offenem Kragen zu uns gekommen war, was eigentlich gar nicht seinem strengen militärischen Ordnungssinn entsprach. Bald erfuhren wir auch den Grund. Eine schon recht kräftige rötliche Schwellung, ein bereits im fortgeschrittenen Stadium befindlicher Furunkel, zierte sein Genick. Nun hagelte es gute Ratschläge unsererseits. "Das muss doch mit einem Schnitt geöffnet werden." "Aber Herr Doktor, solche Kleinigkeit macht man natürlich ohne lokale Betäubung." Diese Empfehlungen spielten natürlich bewusst auf die von ihm bei den Soldaten geübte Praxis in ähnlichen Fällen an. Er wehrte ab mit der Begründung, noch einige Tage zu warten, um die weitere Entwicklung des Furunkels zu beobachten und sich mit einem der Oberärzte zu beraten. Tatsächlich erschien er dann wenige Tage später bei uns, um uns mitzuteilen, dass der Furunkel am Vormittag des nächsten Tages von einem Oberarzt im OP aufgeschnitten werde, selbstverständlich ohne Betäubung. Wir seien alle eingeladen, dem Ereignis beizuwohnen. Wir folgten natürlich dieser Einladung am nächsten Tag. Im OP wurden wir von unserem Oberstabsarzt empfangen; er stand bereits ohne Jacke im Unterhemd in Bereitschaft. Nachdem ihm ein OP-Helfer ein Tuch um beide Schultern gelegt hatte, begann die "Vorstellung". Eine OP-Schwester, die ein Tablett mit Geräten und Verbandszeug in der Hand trug, betupfte die gewisse Stelle im Genick mit einer Flüssigkeit. Bevor der Oberarzt mit seinem Eingriff beginnen konnte, gab ihm der Oberstabsarzt ein Zeichen, dass er noch etwas sagen wollte. Dann hörten wir von ihm folgenden Satz, der bei uns im Offizierszimmer wie ein geflügeltes Wort in lustiger Runde häufig zitiert wurde und der sich mir unvergesslich eingeprägt hat: "Schmerz empfinden ist eine Schande gegenüber der Mutter, die uns geboren hat." Danach stellte er sich breitbeinig mit gebeugtem Nacken vor den Oberarzt und ließ, ohne eine Miene zu verziehen, sein Furunkel aufschneiden. Als ich ihn so in dieser Pose stehen sah, hatte ich den Eindruck, dass er sich jetzt wie ein Held nach gewonnener Schlacht vorkam. Wir Beobachter standen da und sahen mehr amüsiert als bewundernd auf den "Helden" dieser "Vorstellung" und rätselten, wo er diesen hochhehren Satz wohl herhatte oder ob er ihn wohl selbst erfunden hatte.

Es muss wohl Mitte Juni gewesen sein, als ich eines Nachts plötzlich durch lautes Rufen neben mir wach wurde. Ein anderer Zimmergenosse hatte schon das Licht eingeschaltet. Im Bett neben mir lag mein Hildesheimer Freund Kalli Bähre und hielt mit der linken Hand seinen rechten geschienten Arm, der mit einem Stützgestell an der Körperseite fixiert war. Der Verband war rot, und aus ihm lief Blut in das bereits stark rot durchnässte Bett. Ein Kamerad lief sofort aus dem Zimmer, um die Nachtschwester und einen Arzt zu benachrichtigen. Nach einer uns schier endlos erschienenen Zeit kam die Nachtschwester, und mit ihrer Hilfe schoben zwei Kameraden meinen Freund mit dem Bett aus der Tür über die Flure in den wohl inzwischen geöffneten OP. Wie wir hörten, war auch ein Arzt schnell eingetroffen. Nach langem Warten - gewiss einige Stunden - wurde Kalli in seinem wieder hergerichteten Bett zurück in unser Zimmer gebracht. Nun lag er wieder neben mir, und ich hörte ihn leise stöhnen; er war kaum ansprechbar. Sicher war der Blutverlust sehr groß gewesen. Die Schwester berichtete uns, dass man die aufgerissene Ader geschlossen und eine Bluttransfusion vorgenommen hatte.

Am nächsten Tag lag Kalli ruhig und meistens wie abwesend in seinem Bett. Wir sprachen ihn oft an, um ihn abzulenken, aber er zeigte kaum Reaktionen. In der nächsten Nacht wiederholte sich das Aufbrechen der Ader; der Verband war wieder stark durchblutet. Zum Glück hatten wir es früh bemerkt, da immer einer von uns in kurzen Abständen kontrollierte. Wieder wurde er in den OP gefahren und dort versorgt, was ebenfalls wieder lange dauerte. Am darauffolgenden Vormittag wurde er von Sanitätern mit seinem Bett in den OP gefahren, wie wir hörten zu einem operativen Eingriff. Erst am späten Nachmittag brachte man ihn wieder zurück in unser Zimmer. Jetzt erfuhren wir, dass man ihm den rechten Arm weit oberhalb des Ellenbogens amputiert hatte. Er lag neben mir in seinem Bett und war noch nicht wieder bei Bewusstsein. Am späten Abend kam er langsam wieder zu sich und sah mich mit großen Augen an. Seine Worte habe ich nicht vergessen: "Herbert, ist der Arm ab?" Ich nickte nur. Dann war er ganz ruhig und schloss wieder die Augen. Die nächste Nacht haben wir abwechselnd gewacht und ihn beobachtet. Auch die Nachtschwester kam laufend zum Nachsehen. Zum frühen Morgen wurde er sehr unruhig und stöhnte leise. Wir holten gleich die Nachtschwester, die wiederum den Arzt benachrichtigte. Dann sah mich Kalli plötzlich an und sprach leise ein paar kaum verständliche Worte, so dass sich kein Zusammenhang ergab. Ich verstand nur: "… sterben …" Sein Kopf senkte sich etwas seitlich nach vorn. Wir standen ratlos und betroffen an seinem Bett. Inzwischen war auch der Arzt eingetroffen, der nur noch den Tod unseres Kameraden feststellen konnte. Kalli wurde einige Tage später auf dem Friedhof in Rotenburg beigesetzt. Der englische Lazarettkommandant gestattete uns, an der Beisetzung teilzunehmen und ließ uns mit einem britischen Militärwagen zum Friedhof und zurück fahren.



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